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 Reinhards elektrisches Forum
Zenzi Offline




Beiträge: 705

23.10.2009 17:02
Das urteil Antworten

DAS URTEIL © 12/1996 - Paul Hengge - 8. Mai 1997
1
D A S U R T E I L
Paul Hengge
© - 12 /1996 Paul Hengge / Drehbuch 1997 NDR
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DAS URTEIL © 12/1996 - Paul Hengge - 8. Mai 1997
2
1 . FLUGHAFEN / aussen-Nacht
Eine Boeing 747 setzt auf der Landebahn auf.
2 . LOUNGE / innen-Nacht
Der Raum ist mit bequemen Sesseln, Bänken,
Fernsehbildschirmen, einer grossen Bar, Kaffeemaschine,
Zeitungen ausgestattet ist. In einem kleinen Vorraum ist ein
Empfangsschalter an dem eine unpersönliche HOSTESS vor ihrem
Terminal sitzt. Daneben ist ein kleines Fenster durch das
man in die, um diese Zeit nahezu menschenleere Transithalle
schauen kann.
Mehrere Passagiere sitzen in den Sitzgruppen oder in
bequemen Sesseln vor Fernsehbildschirmen, deren Programme
sie mit Kopfhörern verfolgen.
In einer Sitzgruppe vor einem Fenster von dem aus man einen
Teil des Rollfeldes und eine Landebahn des Flugplatzes sehen
kann, sitzt DER FREMDE, ein älterer Herr. Er hat eine Menge
Zeitungen um sich herum verstreut und liest konzentriert.
Ein JUNGER MANN, mit einem eleganten Aktenkoffer neben sich,
schaut dem ausrollenden Flugzeug nach. Auf dem Tisch vor ihm
liegt eine aufgeschlagene Illustrierte. In einer Randspalte
ein Foto ,das einen etwa sechzigjährigen Mann zeigt: S.
Rabinovicz. Die Bildunterschrift lautet: DAS ZÜNGLEIN AN DER
WAAGE / S.R. DER ZEUGE DER STAATSANWALTSCHAFT.
3. FLUGHAFEN - TRANSITRAUM /innen-Nacht
CHRISTIANE, eine junge, attraktive, verschlossen wirkende
Frau steht vor einem Monitor auf dem die Ankunft eines
Fluges aus New York angezeigt wird.
Sie trägt ein gut sitzendes Kostüm, das an eine Uniform
erinnert und ein Käppchen mit der Aufschrift AVIA SERVICE.
In der Hand hält sie einen grossen Briefumschlag, eine
Holztafel, auf der mit Kreide der Name „Mr. S. Rabinovicz“
geschrieben ist und, von ihrer Handtasche verdeckt, das
Zeitungsfoto von Rabinovicz.
Hinter einer Glasscheibe sind die Passagiere zu sehen, die
aus dem gelandeten Flugzeug kommend zur Zollkontrolle gehen.
Einige kommen durch die Tür in den Transitraum.
CHRISTIANE vergleicht die hinter der Glasscheibe
auftauchenden Passagiere mit dem Zeitungsfoto.
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3
Als sie RABINOVICZ hinter der Glasscheibe erkennt, nimmt sie
ein Handy aus ihrer Tasche, drückt eine Speichernummer, sagt
dann nur rasch
CHRISTIANE
Er kommt.
Und steckt das Telefon wieder in die Tasche.
LAUTSPRECHERSTIMME
Eine Sicherheitsdurchsage: Bitte
achten Sie auf Ihr Gepäck, lassen
Sie es nie unbeaufsichtigt stehen.
Sollten sich Unbefugte an Ihrem
Handgepäck zu schaffen gemacht
haben, melden Sie dies bitte
umgehend dem Sicherheitsdienst.
RABINOVICZ kommt durch die Tür in den Transitraum.
CHRISTIANE lächelt gewinnend und hält ihm die Tafel mit dem
Namen entgegen.
RABINOVICZ schaut auf die Uhr und geht, den Schalter für
Anschlussflüge suchend, an CHRISTIANE vorbei.
CHRISTIANE
(ruft)
Mr. Rabinovicz!
Da RABINOVICZ auch darauf nicht reagiert, läuft sie ihm nach
und hält ihn auf.
CHRISTIANE
Entschuldigen Sie, Sir.
RABINOVICZ bleibt ungeduldig stehen.
CHRISTIANE
Ich habe eine wichtige Nachricht für
Sie.
RABINOVICZ
(überrascht)
Für mich?
CHRISTIANE
Ein Passagier bittet Sie dringend,
erst die spätere Maschine nach
Hamburg zu nehmen.
RABINOVICZ schaut CHRISTIANE verblüfft an, schüttelt nur den
Kopf und geht weiter.
CHRISTIANE läuft neben ihm her.
CHRISTIANE
Bitte.
RABINOVICZ
Warum soll ich?
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DAS URTEIL © 12/1996 - Paul Hengge - 8. Mai 1997
4
CHRISTIANE
Dieser Brief enthält ein Ticket
erster Klasse mit einer festen
Buchung für den nächsten Flug, um 9
Uhr früh. -
Als Passagier der 1. Klasse könnten
Sie die Zeit bis dahin auch bequem
in der VIP-Lounge verbringen.
Im Gehen hält CHRISTIANE ihm den Briefumschlag vor die
Augen.
CHRISTIANE
Wenn Sie bereit sind, den späteren
Flug zu nehmen, gehört das Buch
Ihnen, das dabei ist.
CHRISTIANE nimmt ein abgegriffenes, kleines, rotes Buch mit
Goldaufdruck aus dem Umschlag.
Wie vom Blitz getroffen bleibt RABINOVICZ stehen.
Sekundenlang rührt er sich nicht, starrt nur unverwandt das
Buch an. - Er stellt seine Aktentasche ab. Langsam, als
könnte er mit einer heftigen Bewegung alles zerstören,
greift er nach dem Buch. Andächtig schlägt er es auf (von
rechts nach links) und liest ergriffen, leise die
Hebräischen Buchstaben am Kopf der Seite:
RABINOVICZ
Sephär hagada schel pesach -
CHRISTIANE
Einverstanden, Sir?
RABINOVICZ bedeckt das Buch mit beiden Händen und nickt.
4 . LOUNGE /innen-Nacht
Der JUNGE MANN hält sein Handy ans Ohr, spricht leise und
nickt zufrieden. Er steckt das Telefon in die Tasche,
räuspert sich laut und schaut dann erwartungsvoll zur Tür.
RABINOVICZ kommt unsicher herein, bleibt an der Tür stehen.
HOSTESS
Bitte, Ihre Bordkarte, Sir.
RABINOVICZ sucht Ticket und Bordkarte aus dem Briefumschlag.
Die HOSTESS nimmt die Bordkarte, legt sie vor sich auf das
Pult. Nachdem sie die Daten in ihren Terminal getippt hat,
gibt sie es RABINOVICZ zurück.
HOSTESS
Danke.
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Einige Sekunden bleibt RABINOVICZ stehen und schaut die
Fernsehbildschirme an.
Er entdeckt eine freie Sitzgruppe und steuert sie an.
Gerade als er an dem FREMDEN vorbeikommt, hebt der JUNGE
MANN eine Minox-Kamera und fotografiert ihn.
Das aufflammende Blitzlicht irritiert und beunruhigt
RABINOVICZ. Auch der FREMDE schaut irritiert auf. Einen
Moment schauen sie einander unpersönlich an.
RABINOVICZ geht weiter. DER FREMDE vertieft sich wieder in
seine Zeitung.
Bei der freien Sitzgruppe angelangt, legt RABINOVICZ seine
Sachen ab und lässt sich in einen Sessel fallen.
Das Geräusch stört den Zeitung lesenden FREMDEN. Er räuspert
sich rügend.
RABINOVICZ nimmt das kleine Buch aus seiner Brusttasche,
schaut es versonnen an, blättert langsam, andächtig darin.
Während er dies tut, fotografiert der JUNGE MANN ihn wieder.
Als RABINOVICZ begreift, dass der JUNGE MANN eigentlich nur
ihn fotografiert haben kann, hat dieser bereits hastig Raum
verlassen.
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RABINOVICZ verstaut das Buch sorgfältig in seiner
Brusttasche. Er nimmt den Briefumschlag, untersucht ihn. Das
Kuvert ist unbeschriftet und leer.
RABINOVICZ schaut auf die Uhr, überlegt einige Sekunden,
springt dann auf und läuft hinaus, ohne an seine Aktentasche
zu denken, die neben dem Tisch stehen bleibt.
5 . TRANSITHALLE /innen-Nacht
RABINOVICZ stürmt durch die Halle zum Ausgang für die
Passagiere nach Hamburg. Ein Mann schliesst gerade den
Schalter. RABINOVICZ kommt atemlos an.
DER MANN AM SCHALTER
Zu spät, Sir, leider. Die Maschine
startet bereits.
RABINOVICZ
Mein Name ist Rabinovicz. Ich habe
einem Passagier meinen Platz nach
Hamburg abgetreten. Können Sie mir
bitte seinen Namen sagen?
DER MANN AM SCHALTER
Tut mir leid, Sir.
RABINOVICZ
Wieso nicht? Auf Ihrer
Passagierliste muss an Stelle von
Rabinovicz jetzt ein anderer Name
stehen.
DER MANN AM SCHALTER
Sir, erstens dürfte ich über
Passagiere keine Auskunft geben,
zweitens wäre es auch nicht
notwendig gewesen jemandem einen
Platz abzutreten. In der Maschine
nach Hamburg ist kaum die Hälfte der
Plätze besetzt.
RABINOVICZ
(ratlos)
Eine Mitarbeiterin von Avia Service
hat mich hier erwartet und darum
gebeten.
DER MANN AM SCHALTER
(verständnislos)
Avia Service?
RABINOVICZ
(verunsichert)
Sie hatte eine Mütze auf, mit der
Aufschrift Avia Service.
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DER MANN AM SCHALTER
Ist mir nicht bekannt, Sir;
zumindest hier im Transitbereich
gibt es ein Avia Service nicht.
RABINOVICZ schüttelt verständnislos den Kopf.
LAUTSPRECHERSTIMME
Eine Sicherheitsdurchsage: Bitte
achten Sie auf Ihr Gepäck, lassen
Sie es nie unbeaufsichtigt stehen.
Sollten sich Unbefugte daran zu
schaffen gemacht haben, melden Sie
dies bitte umgehend dem
Sicherheitsdienst.
RABINOVICZ wird dadurch aufmerksam gemacht, dass er seine
Aktentasche in der Lounge zurück gelassen hat. Erschrocken
rennt er wieder los.
6 . LOUNGE /innen-Nacht
RABINOVICZ kommt herein. Seine Tasche steht neben dem Tisch,
auf dem der Briefumschlag liegt. Misstrauisch schaut er sich
im Raum um.
Die meisten Passagiere sind weg. DER FREMDE liest nach wie
vor anscheinend weltvergessen in seinen Zeitungen.
Ohne sie zu berühren, inspiziert RABINOVICZ seine Tasche
besorgt.
DER FREMDE
Niemand hat Ihre Tasche berührt. Ich
habe darauf geachtet.
RABINOVICZ
(erleichtert)
Danke.
Er nimmt den Briefumschlag untersucht ihn noch einmal genau.
Dann geht er zu der HOSTESS.
RABINOVICZ
Ich brauche die Telefonnummer von
Avia Service. Können Sie mir helfen?
HOSTESS
A - v - i - a ?
RABINOVICZ nickt.
RABINOVICZ
- Service.
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Wortlos tippt die HOSTESS die Frage in ihren Computer und
wartet. Nach einigen Sekunden schüttelt sie den Kopf.
HOSTES
Gibt es nicht.
RABINOVICZ
Das kann nicht sein. Ich habe mein
Ticket durch dieses Avia Service
bekommen.
Ungnädig nimmt die HOSTESS das Ticket, schaut es flüchtig
an.
HOSTESS
Dieses Ticket ist von American
Express ausgestellt worden -
gestern. Es wurde bar bezahlt.
RABINOVICZ
Dann muss American Express doch
Bescheid wissen -
Die HOSTESS wählt bereits ein kurze Nummer und spricht dann
ins Telefon.
HOSTESS
(telefoniert)
Hier Lynn. - Nancy wissen Sie, ob
Ihr mit einem Avia Service zusammen
arbeitet? - - - Nein, mir auch
nicht. Danke.
Die HOSTESS legt den Hörer auf.
HOSTESS
Avia Service ist auch bei American
Express nicht bekannt.
RABINOVICZ steckt sein Ticket wieder ein.
HOSTESS
Spätestens um sechs Uhr früh ist der
Informationsschalter in der Halle
wieder besetzt. Vielleicht können
die Ihnen dann weiter helfen.
Damit wendet sich die HOSTESS wieder den Listen zu, die vor
ihr auf dem Pult liegen und nimmt RABINOVICZ nicht mehr zur
Kenntnis.
RABINOVICZ
Danke.
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RABINOVICZ geht zu seinem Tisch und setzt sich. Er
untersucht das Ticket, findet aber keinen Anhaltspunkt, der
ihm im Augenblick weiter helfen könnte. Interessiert
betrachtet er die Bar. Er wendet sich um, riskiert es aber
doch nicht, die HOSTESS ein zweites Mal zu stören und
entscheidet er sich dafür, den FREMDEN um Rat zu fragen.
RABINOVICZ
Entschuldigen Sie?
DER FREMDE lässt sich ungern stören, schaut RABINOVICZ ohne
Interesse an.
RABINOVICZ
Wie kann man hier etwas zu trinken
bekommen?
DER FREMDE
Indem sie sich nehmen, was Sie haben
wollen.
RABINOVICZ
Und wo bezahle ich?
DER FREMDE
(lachend)
Führen Sie hier nicht neue Sitten
ein. Bei den Preisen, die für First
und Business genommen werden, sollte
man die Gesellschaften nicht auf die
Idee bringen, dass sie auch noch für
die Drinks kassieren könnten.
RABINOVICZ schaut den FREMDEN interessiert an.
RABINOVICZ
Ist das so teuer?
DER FREMDE
Wissen Sie nicht mehr, was Sie
bezahlt haben?
RABINOVICZ
(schüttelt abwehrend den Kopf)
Bin ich meschugge? Ich kaufe mir
doch nicht für mein eigenes Geld ein
Ticket 1. Klasse.
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Er geht zur Bar, will sich erst Whisky nehmen, entschliesst
sich dann aber für Cognac und Kaffee. Dabei schaut er
mehrmals vorsichtig zu der HOSTESS, befürchtet, dass sie
vielleicht doch nicht damit einverstanden sein könnte, wenn
er sich selbst bedient.
Die HOSTESS kümmert sich nicht um ihn.
RABINOVICZ geht mit Cognac und Kaffee zu seinem Platz, setzt
sich und nimmt wieder das kleine Buch aus der Tasche. Er
lehnt sich zurück, schlägt es auf und beginnt, die Lippen
stumm bewegend, zu lesen. - Als er nach dem Cognacglas
greift, merkt er dass der DER FREMDE vor ihm steht und
fasziniert auf das kleine Buch starrt.
DER FREMDE
Ausgabe Verlag Jakob Brandeis Prag
und Breslau 1900; zweisprachig,
richtig?
RABINOVICZ schaut den FREMDEN misstrauisch an, reagiert
nicht.
DER FREMDE
Die Hagada, die Sie in der Hand
halten, meine ich.
RABINOVICZ hält beide Hände schützend über das Buch.
RABINOVICZ
Was geht Sie das an?
DER FREMDE
Sagen Sie mir einen Preis. Ich gebe
Ihnen dafür, was Sie wollen.
RABINOVICZ schüttelt den Kopf.
RABINOVICZ
Ich verkaufe nicht.
DER FREMDE
Auch nicht für sehr viel Geld?
RABINOVICZ
Um nichts in der Welt werde ich sie
wieder hergeben.
DER FREMDE tritt zu RABINOVICZ und streckt die Hand nach dem
Buch aus.
DER FREMDE
Darf ich?
RABINOVICZ wendet sich brüsk ab.
RABINOVICZ
Wie kommen sie dazu?! Ich lasse sie
mir von Ihnen doch nicht wieder
wegnehmen.
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DER FREMDE
(beruhigend)
Niemand nimmt Ihnen etwas weg. Ich
wollte sie anschauen. - Danke für
die Freundlichkeit.
DER FREMDE wendet sich ab, geht zu seinem Platz, setzt sich,
dreht RABINOVICZ den Rücken und vertieft sich wieder in eine
Zeitung.
RABINOVICZ schaut ihn an, kämpft mit sich, ob er es
riskieren kann, seinen Schatz aus der Hand zu geben.
RABINOVICZ
Haben Sie mit Büchern zu tun?
DER FREMDE
Jeder intelligente Mensch hat mit
Büchern zu tun.
RABINOVICZ
Ich meine beruflich.
DER FREMDE
(interessiert)
Suchen Sie ein Gesprächsthema, weil
Sie sich langweilen? Oder wollen Sie
auf mein Angebot zurück kommen?
RABINOVICZ schaut die Hagada an, schüttelt den Kopf.
RABINOVICZ
Fünfundvierzig Jahre habe ich danach
gesucht. Ich bin glücklich, dass ich
sie habe.
DER FREMDE
Verraten Sie mir wenigstens, wo Sie
sie gefunden haben.
RABINOVICZ findet seine Geschichte selbst unglaublich.
RABINOVICZ
Man hat sie mir geschenkt, dafür
dass ich auf meinen Platz nach
Hamburg verzichte. Dazu habe ich
noch ein Ticket erster Klasse auf
der nächsten Maschine bekommen.
DER FREMDE scheint das für ein Märchen zu halten. Er wendet
sich enttäuscht ab und nimmt seine Zeitung wieder auf.
DER FREMDE
Sie müssen es mir nicht sagen.
RABINOVICZ
Es ist die Wahrheit. -
(nach einer Pause, nachdenklich)
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Ich verstehe es nur nicht. - Die
Maschine nach Hamburg war halb leer.
Er hätte Plätze noch und noch haben
können.
DER FREMDE lässt die Zeitung sinken, schaut RABINOVICZ
überrascht an.
DER FREMDE
Wie erklären Sie sich das?
RABINOVICZ zuckt mit den Achseln.
RABINOVICZ
Ich habe keine Ahnung. Eine junge
Frau, - auf ihrer Mütze stand AVIA
SERVICE - hat mir die Hagada und das
Ticket übergeben. Aber niemand hier
im Flughafen weiss etwas von einem
Avia Service.
Wortlos steht DER FREMDE auf, geht zur HOSTESS lässt sich
ein Telefonbuch geben und kommt damit wieder zurück. Er
blättert das Buch energisch durch, schüttelt den Kopf und
schlägt es zu.
DER FREMDE
Kein Avia Service im Telefonbuch.
RABINOVICZ
Ich verstehe das nicht.
DER FREMDE
Jemand wollte, dass sie den späteren
Flug nehmen. -
RABINOVICZ
(unruhig)
Aber weshalb?-
DER FREMDE
Versäumen Sie einen Termin, wenn sie
verspätet in Hamburg ankommen?
RABINOVICZ
Nein. -
DER FREMDE
Was ich nicht verstehe - warum haben
Sie die Dame nicht gefragt?
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RABINOVICZ
Manchmal kommt das vor, dass ein -
Flug ausgebucht ist und jemand Geld
bietet, für einen Platz. Ich habe
mir nichts dabei gedacht. Ich war so
benommen. Es war wie im Traum.
Plötzlich halte ich die Hagada in
der Hand. - Seit Jahrzehnten suche
ich sie. Zweimal im Jahr habe ich
inseriert, Briefe habe ich
geschrieben, hunderte; und plötzlich
halte ich sie in der Hand.
DER FREMDE
Es muss also jemand sein, der
gewusst hat, dass Sie dieses Buch
suchen.
RABINOVICZ
Wenn er weiss, dass ich es suche,
wird er auch gewusst haben, wie
lange schon. Warum verschenkt er es
dann? Und dazu noch einen Platz in
der 1.Klasse.
DER FREMDE
Einer Ihrer Freunde wollte Sie
wahrscheinlich mit diesem Geschenk
überraschen.
RABINOVICZ
Von meinen Freunden könnte keiner
soviel Geld entbehren. Die Händler,
die es wissen würden mich wochenlang
zappeln lassen, bevor sie mir für
die Hagada das Fell über die Ohren
ziehen.
DER FREMDE
Es soll auch gute Menschen geben.
RABINOVICZ
Wie könnte ein Fremder wissen, dass
ich ausgerechnet heute von New York
nach Hamburg unterwegs bin?
DER FREMDE
Dann ist es allerdings rätselhaft. -
RABINOVICZ
Ich hätte nicht darauf eingehen
sollen. - Aber ich hätte es nicht
übers Herz gebracht.
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Er streicht wieder zärtlich über das kleine Buch.
DER FREMDE
Es handelt sich also um jemanden,
der weiss, dass Sie diese Hagada
gesucht haben. - Er weiss auch, dass
sie heute von New York nach Hamburg
unterwegs sind. Wenn, wie Sie sagen,
niemand einen Vorteil davon hat,
dass Sie später in Hamburg ankommen,
bleibt nur eine Möglichkeit: Er
oder sie wollte ereichen, dass Sie
hier einige Stunden Aufenthalt
haben. Alles, was Sie also tun
müssen ist, hier sitzen und warten,
was geschehen wird.
RABINOVICZ findet diese Erklärung zunächst einleuchtend. Im
weiteren Nachdenken erwacht aber dann neue Besorgnis in ihm.
RABINOVICZ
Sie haben gut reden. Wer garantiert
mir, dass dann nicht einer kommt und
auf mich schiesst?
DER FREMDE
Hätte jemand Grund?
RABINOVICZ
Es gibt genug Verrückte auf der
Welt, die für so etwas keinen
besonderen Grund brauchen.
DER FREMDE
Verrückte kündigen ihre Attentate
aber wohl nicht mit dem grossen Gong
eines noblen Geschenkes an.----
RABINOVICZ schlägt unbeherrscht mit der Faust auf den Tisch.
RABINOVICZ
Warum habe ich sie nicht gefragt!?
Einverstanden, hätte ich sagen
sollen, aber ich muss wissen, wer
dahinter steckt und was man von mir
will.
DER FREMDE
Es wäre das Einfachste gewesen..
RABINOVICZ
Meine Sie, ich sollte die Polizei
informieren?
DER FREMDE überlegt, schüttelt dann den Kopf.
DER FREMDE
Sie müssten damit rechnen, dass die
Hagada als Beweisstück beschlagnahmt
wird.
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RABINOVICZ nickt.
RABINOVICZ
Das kommt nicht in Frage.
DER FREMDE
(meint es nicht ernst)
Eine schwere Entscheidung - wenn Sie
die Polizei verständigen, riskieren
Sie die Hagada wieder zu verlieren,
tun Sie es nicht riskieren sie
vielleicht Ihr Leben.
RABINOVICZ schaut den FREMDEN skeptisch an. Da dieser
belustigt darauf zu warten scheint, wie RABINOVICZ reagiert,
gibt er sich vergrämt.
RABINOVICZ
Sie haben eine nette Art, einem
Menschen Mut zu machen.
Wenn jemand mich umbringen will und
mir deshalb die Hagada schenkt, wird
er auf sein Vergnügen nicht
verzichten, weil ich das Buch der
Polizei übergeben habe.
In seinen Augen keimt ein schlaues Lächeln auf.
RABINOVICZ
Oder werden Sie mir etwa jetzt
gleich erzählen, dass mein Leben
nicht mehr in Gefahr sein wird,
sobald ich die Hagada an Sie
verkauft habe?
DER FREMDE
(grinst)
Ein guter Trick. Schade, dass er
nicht mir eingefallen ist.
(wird ernst)
Ein Freund wäre sehr glücklich,
diese Hagada zu bekommen.
RABINOVICZ schaut den FREMDEN abschätzend an.
RABINOVICZ
Möglicherweise werden Sie mir auch
noch erzählen, es könnte ein
Anschlag von Terroristen sein, eine
Briefbombe, die in der Hagada
versteckt ist. Wahrscheinlich sagen
sie dann, Sie opfern sich und
bringen das Buch für mich zur
Polizei - und weg ist es.
DER FREMDE
(lächelt kopfschüttelnd)
Wie kann man nur so misstrauisch
sein?
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RABINOVICZ schaut den FREMDEN einige Sekunden prüfend an,
schmunzelt dann.
RABINOVICZ
Wären sie nicht auch misstrauisch,
dann würden Sie ihr Geld nicht in
einem Beutel auf der Brust tragen
Im Hemdausschnitt des FREMDEN ist ein schmaler Lederriemen
zu sehen.
DER FREMDE zieht an dem Riemen und holt tatsächlich einen
Beutel hervor, den er RABINOVICZ zeigt. Dabei lacht er
DER FREMDE
Al la bonheur.
RABINOVICZ
Wenn man Tag für Tag mit Leuten zu
tun hat, die im Antiquariat teure
Stücke für wenig Geld aufsammeln
wollen, dann lernt man zu sehen, ob
einer wenig Geld hat oder viel, und
wo er es versteckt.
DER FREMDE
Sie arbeiten in einem Antiquariat?
RABINOVICZ
Lower Eastside; Ost vierte Strasse.
Keine noble Gegend, aber die Sammler
kommen, weil sie glauben, die Leute
in der Gegend haben keine Ahnung,
was Bücher wert sein können.
DER FREMDE
Sie sind Antiquar und haben sich
diese Hagada nicht besorgen können?
RABINOVICZ
Ich habe alles versucht. Sogar die
moderne Hebräische Schrift habe ich
gelernt, damit ich mit Familien
korrespondieren konnte, die aus
Deutschland stammen. Einige habe ich
gefunden, die sie haben. Sie wollten
sie aber nicht hergeben, weil es die
einzige Erinnerung war an Menschen,
die nicht mehr zurück gekommen sind.
DER FREMDE
Und dann wird sie Ihnen plötzlich
geschenkt. - Seltsam ist das schon.
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17
RABINOVICZ
Jetzt fängt er schon wieder damit
an. - Sie wollen doch etwas!
(er spricht mehr mit sich selbst)
Wie einer der herum geht im Laden
genau weiss, wo sie steht, die
Metsie.
RABINOVICZ schaut den FREMDEN prüfend an und spricht jetzt
direkt zu ihm.
RABINOVICZ
Aber er schaut nicht hin, geht
herum, redet und redet, um einem
faul zu machen und müde. Und wenn es
so weit ist, dann greift er zu und
bietet zwei oder drei Dollars. Man
ist froh, dass man noch ein kleines
Geschäft gemacht hat. Wenn man
merkt, was er dabei mitgenommen hat,
ist er längst dahin.
DER FREMDE
Wenn ich Sie richtig einschätze, ist
Ihnen das noch nie passiert.
RABINOVICZ unterdrückt ein eitles Lächeln.
RABINOVICZ
Anderen aber oft genug.
RABINOVICZ tastet die Seitenränder mit den Fingerspitzen ab
als könnte er die Hagada dadurch identifizieren..
RABINOVICZ
Mein Vater hat sie gehabt. Diese
Ausgabe; ganz genau diese. Sie war
ihm heilig. Vor ihm hat sein Vater
sie gehabt. Genau so hat sie
ausgesehen, vielleicht ist sie es
sogar. Wer kann es wissen. -
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Er blättert wieder in dem Buch. Nach einigen Sekunden
spricht er ohne den FREMDEN anzuschauen.
RABINOVICZ
Wenn es Ihrem Freund vielleicht auch
sehr viel bedeuten würde, - dann tut
mir das sehr, sehr leid - weil, -
ich kann sie Ihnen nicht geben. -
(seine Gedanken wandern zurück in
die Vergangenheit)
Er hat mir die Schrift gezeigt. Und
nach meinem siebenten Geburtstag hat
er mir erlaubt, am Sederabend mit
ihm zu lesen; wie der Heilige,
gelobt sei Er, sein Volk aus Mizrajm
erlöst und durch das Rote Meer in
die Freiheit geführt hat. Er wird es
auch diesmal wieder tun, hat mein
Tate gesagt, und die Hagada geküsst,
in der das alles steht. - Das war in
Theresienstadt; ein schöneres Pesach
hat es nie mehr gegeben.
DER FREMDE
Sie sind Jude?
RABINOVICZ nickt.
DER FREMDE
In Deutschland geboren?
RABINOVICZ
In Leipzig. Die Nürnberger Gesetze
waren gerade ein Jahr alt. - Sie
auch?
DER FREMDE schüttelt nach einigen Sekunden kaum merkbar den
Kopf. Wenige Momente bleibt er regungslos, dann wirkt er wie
ein Mensch, der auf dünnes Eis treten muss, wenn er das
andere Ufer erreichen will, aber nicht weiss, ob es ihn
tragen wird.
DER FREMDE
Gottgläubig hat man das damals
genannt. Mein Vater ist aus der
Kirche ausgetreten, weil er meinte,
das wäre er seinem Führer schuldig.
RABINOVICZ zieht sich ganz in sich zurück, schaut auf seine
Füsse, wirkt in diesen Sekunden als ob er frieren würde.
RABINOVICZ
(nach einigen Sekunden)
Ihr Freund, für den Sie die Hagada
haben möchten -
DER FREMDE
Ist Jude.
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RABINOVICZ schaut den FREMDEN prüfend an; wenn der Deutsche
mit einem Juden befreundet ist, denkt er, kann er nicht zu
denen gehören, die immer noch in der Vergangenheit leben. Er
möchte erkennen, wie der FREMDE denkt, aber er scheut die
Frage, das Gespräch über die Vergangenheit.
RABINOVICZ
Warum sucht er sie?
DER FREMDE
Er musste die seine hergeben.
Freiwillig hat er es getan, weil er
damit einem Freund helfen wollte. -
Es ist ihm sehr, sehr schwer
gefallen.
RABINOVICZ
Ich könnte das nicht.
Beide scheuen die Stille, wollen die Verlegenheit
überbrücken, den anderen die Unsicherheit nicht merken
lassen. So versuchen sie im Unverbindlichen zu bleiben, aber
doch Anhaltspunkte zu erhalten, um das Denken und die
Einstellung des anderen zu erkennen.
DER FREMDE
Sie leben in New York?
RABINOVICZ
Manhatten. -
(Eigentlich will er sagen, dass er
nicht wieder in Deutschland leben
könnte)
Ich könnte nicht mehr ... ich könnte
nicht auf dem Land leben.
DER FREMDE
Das verstehe ich.
(um die Verlegenheit nicht
durchbrechen zu lassen, setzt er
nach)
Woher sollten Sie dort als Antiquar
auch die Bücher bekommen und die
Kundschaft.
RABINOVICZ
Kundschaft gibt es auch in der
grossen Stadt nicht sehr reichlich.
Jeder will etwas besonderes
entdecken und nichts dafür bezahlen.
Am schlimmsten sind die Sammler, die
nicht das Buch suchen, sondern den
Wertgegenstand.
DER FREMDE
Die haben aber wahrscheinlich das
meiste Geld.
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RABINOVICZ
(plötzlich)
Lebt Ihr Vater noch?
DER FREMDE schüttelt den Kopf.
DER FREMDE
Er wäre jetzt 95.
Die in dem hohen Alter zum Ausdruck kommende Distanz zur
Vergangenheit und auch der Ton in dem DER FREMDE es sagt,
nimmt RABINOVICZ ein wenig von der Spannung.
RABINOVICZ
Schon lange ist er tot?
DER FREMDE
Zehn Jahre.
RABINOVICZ denkt an die vergleichsweise kurze Lebenszeit des
eigenen Vaters.
RABINOVICZ
Ihm war ein langes Leben vergönnt.
DER FREMDE spürt die Frage, die der andere stellen und doch
nicht aussprechen möchte. Er will ihm Sicherheit geben, dass
er anders denkt als sein Vater gedacht hat, möchte sich von
ihm aber vor einem Fremden nicht distanzieren.
DER FREMDE
Wenn ein Mensch dann so daliegt und
nicht mehr atmet, dann tut das trotz
allem doch weh.
In Gedanken verloren streicht RABINOVICZ mit den
Fingerspitzen zart über die Hagada als könnte er damit
seinem Vater, dessen Sterben er nicht begleiten durfte, ein
letzte Zärtlichkeit erweisen.
RABINOVICZ
Haben sie Kinder?
DER FREMDE verneint. RABINOVICZ nicht verständnisvoll und
nimmt die Antwort vorweg, bevor ihm die Frage gestellt
werden kann.
RABINOVICZ
Vielleicht, wenn eine Frau da
gewesen wäre, die einem wieder Mut
gemacht hätte.
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RABINOVICZ schaut den FREMDEN an. Er gewinnt den Eindruck,
dass er nicht darüber reden will, wieso er keine Kinder hat.
Es erscheint ihm als eine Geste der Verlegenheit, wenn DER
FREMDE ihm die auf dem Tisch liegenden Zeitungen zuschiebt
und auf die Artikel über den Hamburger Mordprozess deutet.
DER FREMDE
Schauen sie sich das an, alle
Zeitungen sind voll davon. Bei euch
auch?
RABINOVICZ
(an der Art, wie er das sagt, kommt
zum Ausdruck, dass er dieses
Amerika dennoch sehr liebt.)
Wir haben in Amerika genug eigene
Morde. Auf Import von
Horrorgeschichten aus anderen
Staaten sind unsere Medien selten
angewiesen.
DER FREMDE
Am Ende einer Kreuzfahrt in die
Karibik ist beim Einlaufen in
Hamburg auf einem deutschen Schiff
ein britischer Milliardär erstochen
worden. Ein deutscher Verleger ist
angeklagt, den Mord begangen zu
haben. Übermorgen beginnt der
Prozess.
RABINOVICZ
(unbehaglich)
Ich habe darüber gelesen.
DER FREMDE
Was halten Sie davon?
RABINOVICZ
Er wird es wohl schuldig sein.
DER FREMDE
Woraus schliessen sie das?
RABINOVICZ
Wie die Zeitungen es darstellen, -
muss er es gewesen sein.
DER FREMDE
Nicht alle. Es gibt auch welche, die
den Angeklagten vehement
verteidigen.
RABINOVICZ
(langsam)
Ich glaube, er hat es getan - und
ich glaube, er wird noch gestehen.
DER FREMDE
(ereegt)
Er hat es nicht getan.
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RABINOVICZ
(tief in Gedanken)
Sie haben ihn vom Schiff gebracht,
in Handschellen. Er hat ausgesehen -
verzweifelt - . Zum Schiff hat er
zurück geschaut, wie jemand, der
erst langsam begreift, was geschehen
ist und es ungeschehen machen
möchte.
(in die Erinnerung versunken)
Er hat mir leid getan. Einen
Menschen hat er wahrscheinlich
umgebracht - aber er hat mir leid
getan.
DER FREMDE
Die Beweise gegen ihn sind nicht
schlüssig und es fehlt ein
glaubhaftes Motiv.
RABINOVICZ
Stellen Sie sich doch vor: Ein Leben
lang hat er gearbeitet und dann
treibt ihn einer, nur aus einer
Laune, aus Bosheit, in den Konkurs.
Von einem Tag zum anderen ist er ein
armer Mann und der, der ihn dazu
gemacht, ist dadurch noch reicher
geworden. Ist das kein Motiv?
DER FREMDE
Er will von vorn wieder anfangen und
er wird es schaffen.
RABINOVICZ
Mit 70? Warum geht einer, der nicht
mehr Brot auf Hosen1 hat, auf eine
teure Kreuzfahrt? Für die er
Schulden machen muss?
DER FREMDE
Woher soll er die Kraft nehmen, für
den neuen Anfang? Er musste Urlaub
machen.
1 jiddische Phrase, über deren ursprüngliche Bedeutung heftig gestritten wurde.
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RABINOVICZ
Nein. - Es war eine Investition, ein
letzter Rettungsversuch. Er wollte
auf der Seereise erreichen, Frieden
mit Hamilton zu machen, damit die
Banken ihm wieder Kredite geben. Der
ist darauf nicht eingegangen. Alles
war umsonst und Wolf hat nicht
gewusst, wo er das Geld hernehmen
soll, um zu leben und die neuen
Schulden zu bezahlen. Da hat er die
Beherrschung verloren und ihn
umgebracht.
DER FREMDE
Das ist falsch, ganz falsch. Es kann
so nicht gewesen sein.
RABINOVICZ
- Ich sage nicht, dass er auf die
Kreuzfahrt gegangen ist, weil er den
Mann umbringen wollte; nur, - wie er
gesehen hat, es nützt alles nichts -
DER FREMDE
Er ist nicht der Menschen, der
unüberlegt handelt. Er war immer
beherrscht und ruhig.
(fügt rasch hinzu)
Das sagen und schreiben alle.
RABINOVICZ
Ganz ohne Temperament ist er?
DER FREMDE
Im Gegenteil, man sagt, er ist sehr
energisch, entschlussstark,
beherrscht -
RABINOVICZ
Beherrscht! Er hat sein Temperament
immer beherrscht. Nur einmal ist es
mit ihm durchgegangen.
DER FREMDE
Wenn man Ihnen zuhört, könnte man
meinen, die Richter hätten das
Urteil schon gesprochen.
RABINOVICZ
Aber Glück hat er, dass Sie nicht
sein Verteidiger sind. Alles drehen
Sie nämlich so hin, dass es
ausschaut - er hat es absichtlich
getan, - mit Vorsatz von Anfang an.
DER FREMDE
Sie hören nicht zu. Ich sage, er war
es nicht.
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RABINOVICZ
Wenn Sie sich aber irren und er ist
es doch gewesen, dann wird man nach
Ihrer Theorie sagen müssen, er hat
es geplant und mit voller Absicht
ausgeführt.
DER FREMDE
Dass Hamilton tot ist, nützt ihm
doch nichts. Seine Schulden sind
damit nicht aus der Welt und Kredite
gibt jetzt erst recht niemand mehr..
RABINOVICZ
Er hat das gewusst. Das hat ihn wohl
so verzweifelt gemacht. Hamilton
wollte ihm nicht helfen. Er hätte
von Bord gehen müssen, ohne einen
Cent, mit einem Berg von Schulden
und ohne zu wissen, wovon er jetzt
leben wird.
DER FREMDE
Er hat Freunde, die ihm geholfen
hätten.
RABINOVICZ
Früher hätten sie das tun müssen,
rechtzeitig ihm sagen. Du bist nicht
allein. Wir werden dir helfen. Er
hätte nicht so verzweifelt sein
müssen, wenn es so gewesen wäre.
Hinterher ist leicht reden: Warum
hast du es mir nicht gesagt?“
Freunde hat man so lange es einem
gut geht. Wenn aber die sieben
mageren Jahre angebrochen sind,
bleibt man am Schabbes2 meistens
allein.
DER FREMDE
Sie wissen wohl alles? Ihnen kann
niemand etwas erzählen, was Sie
nicht besser wissen.
RABINOVICZ
(schaut den anderen schmunzelnd an)
Sind wir uns darin nicht ähnlich?
DER FREMDE
Wolf wäre auf Hamilton nicht
angewiesen gewesen.
RABINOVICZ
Man würde ihm Kredite geben?
2 = Schabath/Sabbath
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DER FREMDE
Ich bin sicher.
RABINOVICZ
Geld zu leben hätte er auch.
DER FREMDE
Keine Frage.
RABINOVICZ
Dann hat er schon zurück gezahlt von
seinen Schulden?
DER FREMDE
Wie soll er verdienen, wenn er seit
der Landung in Untersuchungshaft
sitzt?
RABINOVICZ
(wiegt anerkennend den Kopf)
Sind Sie sicher, dass nicht irgend
wann unter ihren Vorfahren auch
einer gewesen ist, der am Schabath
die Lichter hat anzünden lassen?
DER FREMDE
(amüsiert)
Mir ist nichts derartiges bekannt.
Aber es würde mich nicht stören.
RABINOVICZ
Sie argumentieren nämlich wie
Schlomo der Maler. Der sollte bei
Jakob Blau den Gartenzaun grün
streichen, hat aber nur gelbe Farbe
gehabt. Also hat er die genommen und
gesagt blau und gelb macht sowieso
grün.
DER FREMDE
Das haben Sie sich jetzt ausgedacht.
RABINOVICZ
(enttäuscht)
So schlecht ist der Witz?
DER FREMDE
Ein Witz war das?
RABINOVICZ
Gut, streiten wir über meinen
schlechten Witz. Ist mir lieber.
Darüber regen Sie sich vielleicht
weniger auf.
Durch das Fenster ist ein Flugzeug zu sehen, das über die
Startbahn rast und in den Himmel steigt. Beide schauen ihm
nach.
RABINOVICZ
Könnte meine Maschine nach Hamburg
sein.
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DER FREMDE schaut auf die Uhr.
DER FREMDE
Möglich.
RABINOVICZ
Gemütlich würde ich da drinnen
sitzen und müsste mich nicht mit
Ihnen über einen Mord herum
streiten, der uns beide nichts
angeht.
DER FREMDE
Wenn sie jetzt explodiert, wissen
wir, dass der unbekannte Spender es
gut mit Ihnen gemeint hat.
RABINOVICZ
Das ist ein besserer Witz?
DER FREMDE dreht sich zu RABINOVICZ, grinst, es bereitet ihm
sichtlich Vergnügen, sich mit ihm herum zu streiten.
DER FREMDE
Was hätten Sie werden wollen, wenn
es Hitler nicht gegeben hätte?
RABINOVICZ denkt nach. Die Frage rührt offensichtlich an
offene Wunden und er rettet sich vor dem Schmerz in
Selbstironie.
RABINOVICZ
Ein fröhlicher Mensch; - der nicht
an allem herum meckert, einer den
die Leute mögen.
DER FREMDE
Und beruflich?
RABINOVICZ
Nützt es etwas, wenn ich darüber
nachdenke?
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Die Tür wird aufgestossen. RABINOVICZ zuckt zusammen. Starrt
den JUNGEN MANN an, der herein kommt. Er geht, ohne
RABINOVICZ oder den FREMDEN anzuschauen zu dem Tisch, auf
dem immer noch die Illustrierte liegt. Erst wenn er hinter
RABINOVICZ ist und der ihm den Rücken zugedreht hat, schaut
er ihn an, als wollte erfahren, was er denkt.
RABINOVICZ scheint den Blick zu spüren, dreht sich plötzlich
um. Eine Sekunde sehen sie einander in die Augen. Der JUNGE
MANN nimmt die Illustrierte und geht rasch hinaus.
RABINOVICZ lässt ihn nicht mehr aus den Augen, bis sich die
Tür hinter ihm geschlossen hat.
DER FREMDE beobachtet RABINOVICZ.
DER FREMDE
Die Angst wird man wohl nie mehr
ganz los.
RABINOVICZ
(lügt wütend)
Ich habe keine Angst.
DER FREMDE
Es ist schwer sich vorzustellen, was
in einem Menschen vorgeht, der das
alles erleben musste. - Ich weiss,
niemand will gern darüber reden.
RABINOVICZ
(reagiert wieder heftig)
Und wer will zuhören? - Neugierig,
sind viele, das schon. Aber was da
ganz unten ist, alles, das man
selbst erst weiss, wenn man es
ausgesprochen hat - darauf will
keiner warten, weil es so lange
dauert bis man die Kraft hat, es
herzugeben.
Wieder wird die Tür aufgestossen. Der JUNGE MANN kommt
herein, schaut RABINOVICZ an.
DER JUNGE MANN
Entschuldigen Sie, sind Sie Nathan
Spellman?
RABINOVICZ schaut ihn misstrauisch an.
RABINOVICZ
Nein.
Der JUNGE MANN schaut den FREMDEN an. DER FREMDE schüttelt
den Kopf.
DER JUNGE MANN
Entschuldigen Sie.
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Der JUNGE MANN geht wieder hinaus.
RABINOVICZ
Was will der?
DER FREMDE
Er sucht einen Mr. Spellman.
RABINOVICZ lehnt das ab, schüttelt den Kopf.
RABINOVICZ
Sie haben das nicht gesehen. Von
hinten, seine Augen, wie er mich
angeschaut hat.
(es fällt ihm plötzlich ein)
Und von dort hat er mich auch
fotografiert. Ich bin herein
gekommen. Da hat er mich
fotografiert.
DER FREMDE
Wahrscheinlich hat er zunächst
angenommen, dass Sie Mr. Spellman
sind.
RABINOVICZ
Wenn einer Spellman heisst, muss man
ihn fotografieren?
DER FREMDE
Nein. Es wird aber auch sicher
niemand umgebracht, nur weil er
Rabinovicz heisst.
RABINOVICZ reagiert misstrauisch.
RABINOVICZ
Ich habe Ihnen nicht gesagt, wie ich
heisse.
Gelassen deutet DER FREMDE auf den Anhänger an der
Aktentasche. Auf dem Namensschild steht S. Rabinovicz.
RABINOVICZ schaut den Fremden an, ein Schimmer von Sympathie
ist in seinem Schmunzeln.
RABINOVICZ
Wegen Rabinovicz weiss ich nicht -
aber wegen dem S. hat man mich schon
umbringen wollen.
DER FREMDE
(glaubt es nicht)
Tatsächlich?
RABINOVICZ
(grinst)
Raten Sie, was es heisst.
DER FREMDE
Salomon?
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29
RABINOVICZ
Nein.
DER FREMDE
Samuel?
RABINOVICZ
Das steht jetzt in meinem Pass. Ins
Taufregister in Leipzig hat mein
alter Tate etwas ganz anderes
eintragen lassen. Sie müssen wissen,
er war so stolz auf sein
Deutschland. Im ersten Krieg hat er
es wegen Tapferkeit zum
Unteroffizier gebracht. Wagner das
war für ihn nach seinem Gott das
Höchste. Also hat er seinen einzigen
Sohn Siegfried genannt - Siegfried
Rabinovicz.
(er freut sich an der Erinnerung,
dass seinem Vater gelungen war, die
Peiniger zu verblüffen, auch wenn es
für ihn viele schmerzhafte Folgen
hatte)
Können Sie sich vorstellen, was SSMännern
alles eingefallen ist, wenn
sie einen Juden vor sich hatten, der
Siegfried heissen durfte?
DER FREMDE
(will nachrechnen)
Sie sind geboren -
RABINOVICZ
1936.
DER FREMDE
Da war Hitler schon drei Jahre an
der Macht.
RABINOVICZ
Das hat den Tate nicht gestört.
Eines Tages, so soll er immer gesagt
haben, eines Tages wird sich dieses
Deutschland schütteln und das braune
Gesindel wird aus ihm heraus
fliegen, wie die Flöhe aus einem
Hundefell. Sein Bruder hat es mir
erzählt. Der einzige, der zurück
gekommen ist.
DER FREMDE
Und ihr Vater?
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RABINOVICZ zuckt mit den Achseln, schaut aus dem Fenster.
Draussen schwebt ein Jumbo auf die Landebahn ein. RABINOVICZ
steht auf und geht zum Fenster.
RABINOVICZ
Der Onkel ist schon im Sommer 33
nach Australien ausgewandert. Mein
Vater hat ihm das sehr übel
genommen, der alte Narr. ‘Man darf
sein Land nicht im Stich lassen
darf, wenn Verbrecher sich darin
breit gemacht haben’. - Aber der
Onkel hat es überlebt, viele
Verbrecher auch - der Tate nicht -
RABINOVICZ schaut dem ausrollenden Flugzeug nach.
RABINOVICZ
(mehr für sich)
Was soll man reden, über das was weh
tut und immer weh tun wird, für
nichts? Wenn es nichts verändert in
dieser Welt -
DER FREMDE
Wenn niemand weiss, was geschehen
ist, kann sie erst recht nicht
besser werden.
Er wendet sich vom Fenster ab.
RABINOVICZ
Man hört den Opfern nicht zu und
nicht den Schuldigen; nicht den
Opfern die schuldig geworden sind
und nicht den Schuldigen, die
manchmal vielleicht auch nur Opfer
waren.
Er klopft auf eine der auf dem Tisch liegenden Zeitungen.
RABINOVICZ
Da sitzt ein Mensch in einer Zelle
und möchte wahrscheinlich über seine
Schuld reden, möchte einen finden,
der ihm hilft, sie zu tragen. Aber
wenn er noch Freunde hat, werden die
von ihm nur verlangen, dass er
unschuldig ist. Die anderen erwarten
ein Geständnis von ihm, damit man
ihn verurteilen kann oder einen
Beweis für seine Unschuld, weil man
nicht will, dass die Jagd nach der
Sensation mit seiner Verurteilung
schon zu Ende sein soll.
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31
DER FREMDE
Sie sind fest davon überzeugt, dass
er es getan hat?
RABINOVICZ
Niemand sonst kann es gewesen sein.
DER FREMDE
Aber seit Jahren hat Hamilton’s Frau
ein Verhältnis mit einem anderen
Mann.
RABINOVICZ
Was geht uns das an?
DER FREMDE
Ihr Liebhaber war auch auf dem
Schiff. Wissen Sie das nicht?
RABINOVICZ
Ich habe das alles auch gelesen.
Hamilton hat nichts gegen dieses
Verhältnis einzuwenden gehabt. Es
war ihm recht, er ist längst anders
orientiert gewesen. Warum hätten sie
ihn also umbringen sollen
DER FREMDE
Weil sie endlich frei sein und
miteinander leben wollten.
RABINOVICZ
Sie die Scheidung verlangen können.
Hat sie das versucht?
DER FREMDE
Auf das Vermögen wollten sie
natürlich nicht verzichten. - Also
haben sie beschlossen ihn aus dem
Weg zu räumen.
RABINOVICZ
(ironisch)
Wenn Sie das auch beweisen können,
wird es die Jury sehr interessieren.
DER FREMDE
Wir haben Richter und Schöffen in
Deutschland, keine Jury.
RABINOVICZ
Und die interessieren sich nicht für
Beweise? Oder haben Sie keine? Reden
Sie nur nach, was dieses Dreckblatt
schreibt?
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32
RABINOVICZ hebt eine der Zeitungen hoch, die auf dem Tisch
des FREMDEN liegen und lässt sie verächtliche wieder fallen.
DER FREMDE
Warum Dreckblatt? Weil die Zeitung
eine andere Meinung vertritt als
Sie?
RABINOVICZ
Ihnen gefällt dieser Stil? Die
Zeugen sind senil, verlogen, gehen
fahrlässig um mit der Wahrheit. -
Übel kann einem werden, wenn man das
liest.
DER FREMDE
Was die anderen Zeitungen schreiben,
die den Angeklagten schon schuldig
gesprochen haben, bevor er überhaupt
angeklagt war, davon wird Ihnen
nicht übel?
RABINOVICZ
Mag sein, dass das auch nicht
richtig ist. Aber nach den
Zeugenaussagen ist er schuldig; und
die Zeugen sagen nur, was sie
gesehen und gehört haben.
DER FREMDE
Was sie glauben, gesehen und gehört
zu haben; und das woran sie sich
erinnern wollen.
RABINOVICZ
Alles wurde von der Polizei
untersucht und vom Staatsanwalt
geprüft. Jetzt liegt es den Richtern
vor. Warten Sie das Urteil ab.
DER FREMDE
Niemand sucht weiter, wenn sie einen
haben, der hinreichend verdächtig
ist. Dann wird nur aufgesammelt, was
sich als Beweis gegen den
Angeklagten auswerten lässt.
RABINOVICZ
Wer sonst soll es getan haben?
DER FREMDE
Der Liebhaber. -
Auf dem Schiff hat Wolf hat mehrmals
Streit mit Hamilton gehabt, dadurch
konnten die Frau und ihr Liebhaber
es so drehen, dass der Verdacht auf
Wolf fallen musste. Diese
Gelegenheit haben sie sich nicht
entgehen lassen.
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33
RABINOVICZ
So kann es aber nicht gewesen sein.
DER FREMDE
(heftig)
Sie können das doch nicht wissen!
RABINOVICZ
(zornig)
Besser als Sie vielleicht.
DER FREMDE
Und wieso?
RABINOVICZ
Weil -
(er unterbricht sich, überlegt einen
Moment, ob er dem Fremden die
Wahrheit sagen soll, tut es dann
doch nicht)
weil ich darüber mindestens ebenso
viel gelesen habe, wie Sie.
DER FREMDE greift eine der Zeitungen hält sie RABINOVICZ vor
die Augen.
DER FREMDE
Auch das?
RABINOVICZ kommt zu ihm, nimmt die Zeitung, schaut den
Artikel an.
RABINOVICZ
(liest die Überschrift)
Ein unbarmherziger Zeuge.
Er überfliegt den Artikel und lässt die Zeitung dann
verächtlich fallen.
RABINOVICZ
Der Herr, der das geschrieben hat,
scheint ein Hellseher zu sein; aber
ein Blinder.
DER FREMDE
Jeder, der eine andere Meinung hat
als Sie, wird abqualifiziert.
RABINOVICZ
(nachdenklich)
Früher oder später wird er gestehen.
DER FREMDE
Er hat nichts zu gestehen. Aber wenn
ihm nicht ein Wunder hilft, wird er
jahrelang unschuldig inhaftiert
sein, bis sich irgendwann heraus
stellt, dass Hamilton vom Liebhaber
seiner Frau erstochen worden ist.
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34
DER FREMDE hebt wieder die umstrittene Zeitung hoch.
DER FREMDE
Lesen Sie doch wenigstens diesen
einen Artikel. Lassen Sie für ein
paar Minuten auch eine andere
Meinung gelten und denken Sie
darüber nach.
RABINOVICZ schiebt die Zeitung beiseite.
RABINOVICZ
Es ist schäbig, zwei Menschen als
Mörder zu verdächtigen, weil sie
ein Verhältnis miteinander haben.
Das ist die Art, mit Menschen
umzugehen -
(er versinkt für einige Sekunden in
düsteres Schweigen)
Es hat sich wohl nichts geändert.
Immer noch heisst es, wer stinkt
lügt und wer lügt, stiehlt auch.
DER FREMDE
Sie meinen, ich denke so?
RABINOVICZ schaut erschrocken auf.
RABINOVICZ
Nein! Nein. - Nicht Sie. -
Leute wie diese Winkeljournalisten.
Sie schreiben diese Sachen nicht, um
ihre Leser zu informieren. Sie
wollen Käufer anlocken und dafür ist
ihnen jede üble Trick recht, wenn er
nur dazu führt, dass die Zeitung
sich besser verkauft.
DER FREMDE will einen Moment lang heftig reagieren,
beherrscht sich aber.
DER FREMDE
Ob Sie auch so argumentieren würden,
wenn der Angeklagte nicht Deutscher,
sondern Engländer wäre und der
Liebhaber nicht Amerikaner sondern
Deutscher?
RABINOVICZ
Dass er Amerikaner ist, habe ich
nicht gewusst.
DER FREMDE
Nicht einmal das? Sie wissen nichts
- aber ein Urteil haben Sie sich
gebildet. Sie sind nicht bereit, dem
Angeklagten die geringste Chance zu
geben.
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35
RABINOVICZ
Warum Sie sich so aufregen, verstehe
ich nicht. Das ganze geht Sie doch
gar nichts an.
DER FREMDE
Ein Mensch sitzt im Gefängnis, wird
- wenn nicht ein Wunder geschieht -
verurteilt werden, obwohl er
unschuldig ist. Sie meinen, das geht
uns nichts an? Ein anderer
profitiert davon. Er ist
hingegangen, hat einen Menschen
kaltblütig erstochen und wird frei
ausgehen. Das geht uns nichts an?
Dem einen nimmt er mit Gewalt das
Leben, dem anderen stiehlt er es -
aber uns geht das nichts an!?
RABINOVICZ schaut den FREMDEN verwundert an.
RABINOVICZ
In Büchern liest man das, habe ich
geglaubt. Dass es wirklich einen
Menschen gibt, der so denkt, wenn es
um Fremde Menschen geht, das zu
wissen, tut gut.
(fast ein wenig traurig)
Schade nur, dass Sie sich für den
falschen Mann echauffieren. - Der
Angeklagte ist schuldig, glauben Sie
mir.
DER FREMDE
Wenn Wolf verurteilt wird, macht das
keinen von denen wieder lebendig, an
die Sie eigentlich denken und keiner
von denen, die damals schuldig
wurden, wird dadurch bestraft.
RABINOVICZ
(empört)
Daran denke ich nicht; keine Sekunde
habe ich daran gedacht.
DER FREMDE
An nichts anderes denken Sie - nur
daran! Sonst würden sie nicht so
reden.
RABINOVICZ
So rede ich, weil ich dabei gewesen
bin. Ich war auf dem Schiff. - Hier
- hier - der Mann, den dieser
Winkeljournalist für einen
fragwürdigen Zeugen hält, das bin
ich. Ich bin dabei gewesen; ich habe
ihn gesehen.
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36
RABINOVICZ geht hinaus, knallt die Tür hinter sich zu.
Die HOSTESS hebt indigniert den Kopf, schaut den FREMDEN an
und schüttelt missbilligend den Kopf.
DER FREMDE ist seltsam besorgt, entspannt erst als er sieht,
dass die Aktentasche wieder zurück geblieben ist.
7 TRANSITHALLE /innen-Nacht
RABINOVICZ steht mitten in der Halle. Es wird ihm bewusst,
dass er ganz sinnlos gehandelt hat. Plötzlich starrt er wie
elektrisiert zu einer Bank.
CHRISTIANE sitzt dort, blättert in einer Zeitschrift. Neben
ihr sitzt der JUNGE MANN.
RABINOVICZ läuft auf sie zu.
Der JUNGE MANN sieht ihn, zerrt CHRISTIANE hoch,
verschwindet mit ihr in einem Seitengang.
Als RABINOVICZ den Seitengang erreicht, sind die beiden
nicht mehr zu sehen.
8 LOUNGE /innen-Nacht
DER FREMDE ist sichtlich erleichtert als Rabinovicz wieder
herein kommt.
DER FREMDE
In den Zeitungen steht nur von einem
Zeugen S. R. - ich konnte nicht
wissen, dass Sie das sind. Sie
hätten es mir sagen sollen.
Angestrengt nachdenkend setzt RABINOVICZ sich in seinen
Sessel.
DER FREMDE holt von der Bar Kaffee und Cognac für RABINOVICZ
und stellt beides vor ihm auf den Tisch.
RABINOVICZ schüttet den Cognac in sich hinein.
RABINOVICZ
Ich habe sie gesehen, in der Halle -
die Frau, von der ich die Hagada und
das Ticket bekommen habe und den
Mann, der mich fotografiert hat.
DER FREMDE
(gespannt)
Und?
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37
RABINOVICZ
Sie sind davon gerannt.
DER FREMDE
Doch Polizei?
RABINOVICZ
Was würden die sagen? Es ist kein
Verbrechen jemandem etwas zu
schenken. Man hätte das Geschenk ja
nicht annehmen müssen oder fragen
können, woher es kommt. - Die Mütze
mit der Aufschrift Avia Service hat
sie übrigens jetzt nicht mehr auf.
DER FREMDE schaut RABINOVICZ besorgt an.
DER FREMDE
Sie sind beunruhigt?
RABINOVICZ
Wären Sie das nicht?
DER FREMDE schaut nachdenkend auf seine Uhr.
DER FREMDE
Sollte mit diesem Geschenk eine böse
Absicht gegen Sie verbunden sein,
dann wird sie ausgeführt werden,
während Sie hier warten oder auf dem
Flug, der für Sie gebucht wurde.
RABINOVICZ
(ironisch lächelnd)
Das hilft mir sehr.
DER FREMDE geht überlegend auf und ab.
DER FREMDE
Geben Sie mir Ihr Ticket. Ich werde
umbuchen für uns beide. Dann sind
sie hier nicht allein und niemand
weiss, in welcher Maschine Sie
weiter fliegen und wann sie
ankommen.
RABINOVICZ hält zögernd sein Ticket in der Hand.
RABINOVICZ
Das kann ich Ihnen doch nicht
zumuten.
DER FREMDE nimmt ihm das Ticket aus der Hand.
RABINOVICZ
Es wird auch mehr kosten!
DER FREMDE
Zerbrechen Sie sich darüber nicht
den Kopf.
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DER FREMDE geht mit Ticket und Bordkarten zum Pult der
HOSTESS.
Während er mit ihr verhandelt wird die Tür aufgestossen.
Drei Männer kommen herein, zeigen der HOSTESS ihre
Bordkarten und versorgen sich dann an der Bar mit Getränken.
Sie werden von RABINOVICZ und dem FREMDEN argwöhnisch
beobachtet.
Die DREI MÄNNER ziehen sich mit ihren Getränken in eine Ecke
zurück.
RABINOVICZ schaut zum Fenster.
Draussen rollt ein brasilianisches Flugzeug zur Startbahn.
RABINOVICZ geht zum Fenster. Von hier kann er die drei
Männer besser sehen. Sie haben Spielkarten, Pokern und
scheinen die Welt vergessen zu haben.
DER FREMDE kommt zurück.
DER FREMDE
Alles bestens. Wir fliegen um 8 Uhr
30 nach Frankfurt. Dort haben Sie
Anschluss nach Hamburg.
RABINOVICZ schaut ihn lange an, überrascht, berührt, dass
ein Mensch das tut.
RABINOVICZ
Ich mache mir Vorwürfe, dass ich Sie
überhaupt in die Sache hineingezogen
habe. - Aber ich bin Ihnen sehr
dankbar.
DER FREMDE
Vielleicht haben Sie es wirklich mit
einem Verrückten zu tun.
RABINOVICZ
(grinst)
Politiker könnten Sie vielleicht
auch sein. Einmal sagen Sie das und
später das genaue Gegenteil davon,
aber immer klingt es so, dass man es
glauben muss.
DER FREMDE
So ist das Leben. Nicht umsonst
steht in der Bibel: Eines hat Gott
geredet, zweierlei habe ich gehört.
RABINOVICZ
(ernst)
Von Gott habe ich nicht gesagt. Den
stelle ich mir schon anders vor.
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DAS URTEIL © 12/1996 - Paul Hengge - 8. Mai 1997
39
DER FREMDE
Ich habe nur einen Psalm zitiert.3
RABINOVICZ wartet darauf, dass DER FREMDE mehr dazu sagt.
Schaut ihn dann mit Neugier und aufkeimender Sympathie an.
RABINOVICZ
Sie reden wohl auch nicht gern über
sich?
DER FREMDE
Nur wenn mir absolut nichts besseres
einfällt.
RABINOVICZ schaut sekundenlang düster vor sich hin,
schüttelt den Kopf über sich selbst.
RABINOVICZ
Noch nie in meinem Leben hat es das
gegeben -
(er schaut DEN FREMDEN an, als wäre
dieser Schuld daran)
Wenn es einmal so aussieht, als gäbe
es ein mazl4 für mich, dann bedeutet
das immer, dass gleich ein
schlamazl5 hinterher kommen wird.
Immer ist es so gewesen, mein ganzes
Leben.
DER FREMDE
(nachdenklich)
Beneidenswert.
RABINOVICZ richtet sich argwöhnisch auf.
RABINOVICZ
Sie machen sich lustig?!
DER FREMDE
(grinst)
Keineswegs. - Über jedes Unglück
dürfen Sie glücklich sein, denn
Glück würde ihnen ja nur noch mehr
Unglück bringen.
RABINOVICZ schaut DEN FREMDEN einen Moment verbittert an,
weil der den Punkt gemacht hat, dann lacht er schallend
RABINOVICZ
Aber hören Sie sich das an. Wissen
Sie, wie ic




hab ich das jetzt wirklich gesagt, oder nur gedacht, hab ich gesprochen, haben die mich gehört.


Zenzi Rules


Du bist doch kein Portugiese

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